
Bei der ersten Begegnung der konfektionierten Energieführung „readychain“ von Igus und der Spindeltrommel im April 2017 sind viele Prozesse und Handgriffe noch keine Routine und verlangen von den Akteuren höchste Aufmerksamkeit. Passt das 750kg schwere und fast 2m breite Energiekettensystem von Igus in das gekippte Gehäuse der Maschine?
Dass die Vereinigung in „gekipptem“ Zustand erfolgt, ist eine absolute Neuerung in der Produktionstechnik bei der DMG Mori-Tochter Gildemeister Italiana: Zuerst wird der Motor mittels Hakenkränen ins Gehäuse gehoben. Dann erfolgt die Montage der readychain mit ihren acht Energieketten, 64 elektrischen Leitungen und 73 Schläuchen. Die Konstruktion besitzt einen 1,8m langen Körper für die Rotation. Aus diesem ragen wie Arme die sechs linearen Energieketten für den Antrieb der Spindeln. In den Ketten befinden sich die für die Bewegung ausgelegten chainflex-Leitungen mit passenden Industriesteckern, die anschließend mit den elektromechanischen Bauteilen an der Drehmaschine verbunden werden. Der Prozess dauert etwa zwei Stunden – dann ist die Verbindung der readychain mit der Spindeltrommel abgeschlossen. Es ist der Höhepunkt der Zusammenarbeit!
Die Ingenieure und Techniker arbeiten drei weitere Monate bis in den Hochsommer 2017, um die Maschine fertig zu montieren, zu testen und auf die Reise zu schicken: Ziel war die weltweit größte Werkzeugmaschinenmesse EMO in Hannover. Hier wurde die Multisprint als Revolution im Maschinenbau präsentiert. Schließlich kombiniert sie als erste Maschine einen Mehrspindel-Drehautomaten mit der Swisstype-Technologie – und das mit einer Y-Achse auf jeder Spindellage.

Maximale Flexibilität durch neue Technologie
Durch die Globalisierung und die Dynamik der Märkte haben sich die Kundenanforderungen an moderne Drehmaschinen verändert. Durchlauf- und Rüstzeiten verkürzen, den Aufwand für Prozessentwicklung und -integration reduzieren und dabei dem zunehmenden Komplexitätsgrad gerecht werden: Diese Herausforderungen erfüllt die neue Multisprint. Düsen in der Fluidtechnik, Implantate in der Dentaltechnik und Wellen für dem Automobilbau sind nur drei Beispiele für komplexe Bauteile, die auf den Hightech-Maschinen gefertigt werden können. Das Ergebnis ist eine Fertigungslösung für skalierbare Anforderungen vom Serienanlauf bis zur Serienfertigung komplexer Werkstücke.
Was kann die Maschine besser als andere? In Sachen Produktivität und Effizienz setzt DMG Mori neue Maßstäbe. Die Kombination von drei Maschinentechniken gestattet es dem Kunden, in seiner Produktion völlig neue Wege zu gehen. Er bekommt die größtmögliche Flexibilität für die Massenproduktion von Bauteilen bis zu einem Durchmesser von bis zu 50mm.

Schwere Trommel dreht präzise und schnell
Das Herzstück der Maschine ist die Spindeltrommel mit sechs Spindeln zur gleichzeitigen Bearbeitung mehrerer Werkstücke. Die Hauptspindeln in der Trommel verfügen über einen Verfahrweg von bis zu 180mm. Die Trommel bewegt die Werkstücke hochpräzise und schnell zu den Werkzeugen. Eine Fahrt für eine der sechs Spindeln in die nächste Position dauert nur 0,65 Sekunden. Um nach der Bearbeitung in den sechs Stationen wieder in die Ausgangsposition zu gelangen, ist eine Rückdrehung der Trommel von 300° notwendig. Dafür benötigt die über 3t schwere Einheit nur eine Sekunde. Durch die Trommel schieben sich die Stangen aus dem Lader in Position für die Bearbeitung. Wie hat DMG Mori es geschafft, die verschiedenen Bewegungsarten mit dieser Geschwindigkeit und Präzision zu realisieren?

Zuverlässiges Energieführungskonzept
Im Sommer 2016 schrieb DMG Mori den Anforderungskatalog aus, und der Kölner Kunststoffspezialist Igus erhielt den Auftrag. Mirko Passerini, technischer Direktor am italienischen DMG Mori-Standort Gildemeister Italiana S.p.A. sowie verantwortlich für die Entwicklung und Produktion der Multisprint, begründet die Entscheidung: „Das Vertrauen in die langjährigen Erfahrungen von Igus mit der Entwicklung von kundenspezifischen Energieführungen ist groß, zudem das hohe Niveau an Testmöglichkeiten.“
Das erste Treffen fand im Januar 2017 statt. „Die ersten Begegnungen waren spannend“, erinnert sich Passerini. „Zwei Igus-Ingenieure waren für eine Woche bei uns in Italien. Mehrmals täglich wurden Fortschritte ab- und Pläne angeglichen. Lösungsideen wurden entwickelt und auch wieder verworfen.“ Pläne für die Blechkonstruktion wurden gemacht, eine Auswahl an passenden Leitungen und Schläuchen für die Versorgung der Trommel mit Energie, Daten und Flüssigkeit wurde getroffen. „Die readychain-Lösung von Igus war für uns der Durchbruch“, so Passerini.
Im Austausch der Experten entsteht ein einzigartiges Energieführungssystem, das die Rotation der Trommel mitmacht und die Linearbewegungen der Spindeltrommeln ermöglicht. Schließlich hängt das System aus Metallrahmen, Leitungen, Schläuchen und Ketten im Maschinenmittelteil an der sich permanent und schnell drehenden Trommel. „Die Statik der Metallkonstruktion war eine neue Herausforderung“, erklärt Volker Beißel. Er ist einer der zentralen Ansprechpartner aus dem Branchenmanagement für Werkzeugmaschinen von Igus und hat die Entwicklung der readychain von Beginn an begleitet. „Nach jedem Entwicklungsschritt haben wir die Statik neu berechnet, um sicherzugehen, dass die Metallkonstruktion zweifelsfrei hält und nicht ermüdet.“ Igus hat das Ziel, eine Lebensdauer des Energieführungssystems von mindestens fünf Jahren zu realisieren.
Um die Rotation der Trommel mitzugehen, setzt Igus auf eine Dreh-Energieführung. Hierbei handelt es sich um kundenspezifische Systeme für Kreisbewegungen mit Energieketten, die u.a. in Werkzeug- aber auch Baumaschinen zum Einsatz kommen. Die Standard-Dreh-Module bestehen aus zwei kreisförmigen Führungselementen. Ein Teil der Führungsrinne wird am statischen Teil der Anlage befestigt und der andere Teil am drehenden. Der rückwärtige Biegeradius erlaubt die Bewegung der Energieketten in zwei Richtungen. Drehwinkel bis zu 540° in einer Ebene sind hier realisierbar.

Clevere Lösungen
Die Trommel in der Multisprint dreht sich in einem Bereich von 300° und besteht aus zwei Rotationssystemen. Im äußeren System befinden sich die Schläuche, da sie einen etwas größeren Biegeradius benötigen; hier sind es 160mm. Im inneren Kreis werden 24 Leitungen geführt – jeweils zwölf Geber- und zwölf Servoleitungen. Zu jeder der sechs Linearketten gehen damit zwei Geber- und zwei Servoleitungen. Eine der Servoleitungen liefert die Energie für die Linearbewegungen der Hauptspindeln in der Trommel und eine treibt den Spindelmotor an. Diese können sich mit einer Geschwindigkeit von 0,66m/s bewegen bei einer maximalen Beschleunigung von 10m/s². Die sechs Energiekettensysteme sind durch Verteiler individuell steckbar und einfach zu warten oder zu bearbeiten. Das war auch eine der Hauptanforderungen von DMG Mori. Wartung und Service stehen bei dem Maschinenbauer an erster Stelle. Zudem müssen die Ketten und Leitungen der readychain mit einem vergleichsweise geringen Bauraum auskommen. Es gilt, den Arbeitsraum für die Mechaniker hinter der Trommel möglichst groß zu halten. Das von Igus entwickelte System entspricht vollständig diesen Anforderungen.
>> Die readychain-Lösung von Igus war für uns der Durchbruch <<
Drei Monate hatten Igus-Ingenieure Zeit, das System anzufertigen. Bei der Entwicklung wurde besonders viel Wert auf die Modularität der einzelnen Bauteile gelegt. Die Linearkettensysteme sind steckbar, und die von Igus konzipierten Blechteile für die Befestigung an der Maschine sind aus mehreren Teilen gefertigt. Das erleichtert das Handling der readychain beim Kunden und die Konfektionierung in der Igus-Fabrik. Für die Endmontage der Ketten mit den bereits vorkonfektionierten Leitungen und Schläuchen benötigen die Igus-Fachleute circa 2,5 Tage. Für eine schnelle Produktion ist es hilfreich, dass die readychain zu 95% aus direkt von Igus gefertigten oder beschafften Teilen besteht.
Die Montage wird zudem unterstützt durch das für Igus-typische readychain Rack – ein Metallgestell mit vierfacher Funktion. Es ist eine Montagehilfe für die Verbindung der Komponenten bei Igus und verleiht der gesamten Konstruktion Stabilität. Das Rack ist genau 2x2m groß und passt so auf die Ladefläche eines Kleinlasters. Der Transport zum Kunden wird durch das Rack deutlich erleichtert. Beim Kunden sorgt das Gestell für eine einfache Plug&Play-Montage der vollkonfektionierten Energiekette an die Maschine.
Konzept überzeugt auch die Kunden
Die Multisprint verbindet heute die Produktivität einer Produktionsdrehmaschine mit der Präzision einer Automatendrehmaschine und der Komplexität einer Universaldrehmaschine. So kann die Multisprint komplexe Dreh-Frästeile sowohl in der Stangen- als auch in der Futterbearbeitung herstellen – ohne das System aufwendig umrüsten zu müssen. Im Juni 2018 lieferte das italienische Werk die erste Multisprint an einen Kunden in Polen. Heute laufen dutzende Multisprint u.a. in Deutschland, Italien, den USA und Spanien. „Die Kunden sind begeistert und haben das Konzept der neuen Maschine sofort verstanden“, berichtet Passerini, „vor allem auch die einfache Wartung dank der Igus-Energieführung.“
Autor: Lukas Czaja, Leiter Branchenmanagement Werkzeugmaschinen bei Igus
Mehr als 800.000 Testzyklen ohne Probleme
„Vor der Auslieferung wurde das gesamte System wochenlang intensiv getestet“, so Lukas Czaja, Leiter Branchenmanagement Werkzeugmaschinen bei Igus. In der Zentrale in Köln befindet sich das mit 3.800m² größte Testlabor der Branche. Ein speziell entwickelter Teststand simuliert die Bewegungen des Multispindel-Drehautomaten. In der realitätsnahen Umgebung hat die readychain bereits mehr als 800.000 Zyklen ohne Probleme durchlaufen.