Software als wichtigstes Bauteil? Das erweckt den Anschein, dass es sich bei der Haas Schleifmaschinen GmbH um eine Software-Schmiede handelt und nicht um einen gestandenen Maschinenbauer. Genau so präsentiert sich auch der Primus der Schleifmaschinen am Firmensitz in Trossingen. Hier treffen wir Marie-Sophie Maier-Wember, die seit 2018 Geschäftsführerin und designierte Nachfolgerin ist. Zudem verantwortet sie die Wachstumsthemen Digitalisierung und Software-Entwicklung. Mit ihrer aufgeschlossenen Art passt sie so gar nicht in das gelernte Bild eines Maschinenbauers aus dem Schwarzwald.
dima: Frau Maier-Wember, Sie bezeichnen die konsequente Digitalisierung als das zentrale Zukunftsthema bei Haas Schleifmaschinen. Ist das nicht alter Wein in neuen Schläuchen?
Wenn Sie sich auf die deutsche Redewendung beziehen, muss ich das klar verneinen. Eine alte Idee als etwas Neues zu präsentieren, entspricht nicht unserer DNA. Zukunft ist immer eine Vorstellung – und aus dieser entwickeln wir mit unseren Kunden eine konkrete Leitidee. Und um bei Ihrem Vergleich mit dem alten Wein zu bleiben: Ja, wir haben bereits früh (1990) begonnen, unser eigenes Bediener-Interface zu kreieren. Mit unseren eigenen Software-Lösungen entwickeln wir Schleifprozesse, die mindestens innovativ sind, manchmal sogar disruptiv. So gesehen, gefällt mir das Bild mit den neuen Schläuchen recht gut.
dima: Nehmen Sie uns doch mit in die Zukunft: Was gibt es Neues aus der Software-Schmiede und mit welchem Nutzen wollen Sie die Branche überzeugen?
Aktuell präsentieren wir die neue Visualisierungssoftware Multigrind Styx. Hier sind wir wieder einmal unseren eigenen Pfad gegangen, weg von der branchenüblichen Simulation, hin zu einer exakten 1:1-Visualisierung. Dank Raytracing geschieht das pixel- und mµmgenau – ohne Einschränkung. Der Anwender prüft alle Werkstückdaten in höchster Auflösung und bis ins kleinste Detail, noch bevor die Multigrind-Schleifmaschine startet. Statt Flächen aufwendig zu rekonstruieren, stellt Multigrind Styx ohne nennenswerten Aufwand jede gewünschte Form dar. Gerade minimale Programmierfehler werden so vorab aufgelöst. So werden keine teuren Rohlinge mehr verschliffen, um Ungenauigkeiten auszubügeln. Multigrind Styx ist integrierter, cloudbasierter Bestandteil unserer bewährten Multigrind Horizon Software: brandneu, brillant und außerdem hochproduktiv. Unsere Kunden sparen Zeit, Kosten und Nerven, bevor ihre Schleifprozesse beginnen.
dima: Das klingt überzeugend. Wie reagieren Ihre Kunden auf die cloudbasierte Lösung?
Überrascht! Die Visualisierung von Multigrind Styx liefert bestechend genaue Ergebnisse. Wenn wir in allerkleinste Details hineinzoomen, zeigen sich minimalste Ungleichheiten in Übergängen oder Restwelligkeiten. Anschließend wollen unsere Kunden natürlich wissen, wie sich diese cloudbasierte Serviceleistung umsetzen lässt. Hier machen wir unterschiedliche Erfahrungen. Wir treffen auf Unternehmen, die gegenüber Zukunftstechnologien wie Cloud Computing keine Vorbehalte haben. Wir sind aber auch überrascht, wie wenig sich ein Teil unserer Branche mit den Herausforderungen der Digitalisierung auseinandersetzt.
dima: Da sprechen Sie ein heißes Thema an. Ist unser heimischer Mittelstand gegenüber digitalen Zukunftstechnologien rückschrittlich?
Nein, das sehe ich nicht so. Vielfach ist eine Fertigung im Sinne der Industrie 4.0 bereits geplant oder schon im vollen Gange – wie bei uns. Zukunft geht unserer Auffassung nach so: Wir beschäftigen uns nicht mit Fragen, auf die wir schon eine Antwort haben. So gesehen agieren wir stellenweise wie ein hungriges Start-up. Wir bieten mit unserer Multigrind-Baureihe die allerbesten Vorrausetzungen und unsere Multigrind Horizon Software macht aus unseren Hightech-Schleifmaschinen echte Leistungssportler. So betrachtet verkaufen wir keine Maschinen, sondern kundenindividuelle Lösungen mit eingebauter Zukunft.
dima: Geben Sie uns noch ein weiteres Beispiel, das die Innovationskraft Made in Trossingen verdeutlicht?
Darf es auch etwas Abgefahrenes sein? Zum Bespiel ein komplexes hyperpräzises Wälzschälrad für die Produktion von Zahnrädern? Unsere Kunden entwickeln Getriebe, die immer leichter, kleiner und komplexer werden. Um bei höchster Beanspruchung noch mehr Laufruhe zu erreichen, wachsen die Präzisionsanforderungen beinahe exponentiell. Die Herstellung solch komplizierter Profile erfordert hochkomplexe Berechnungen. In der Teilungsgenauigkeit der Zahnräder setzt sich der minimalste Fehler fort und führt zu Ungenauigkeiten im Getriebe. Eine tolle Aufgabe für unsere Mathematiker, denn es gibt bisher kein zufriedenstellendes Rechenmodell auf dem Markt. Wir haben sogleich festgestellt: Wenn wir das unter Kontrolle haben wollen, müssen wir selbst rechnen. Dabei denken wir rückwärts – von den Eigenschaften des gewünschten Zahnrads zum perfekten Wälzschälrad. Wir rechnen mit der exakten Bahn, die aus der Bewegung des Zahnrades im Getriebe resultiert.
dima: Das klingt schon nach höherer Mathematik. Und wie gelingt die Umsetzung im Schleifprozess?
Ja, aber das neue Rechenmodell ist nur eine Seite der Medaille. Die exakte Übertragung der Multigrind Horizon Software auf die Maschinenbewegung erlaubt keinerlei Abweichung. Um diese Präzision zu erzeugen, muss die Ausrichtung der Schleifscheibe auf ein Zehntausendstel Grad genau erfolgen. Die gewünschte Schleifperformance ist ohne integrierte Messtechnik und kontinuierliches Abrichten der Schleifwerkzeuge nicht erzielbar. Die Ergebnisse des permanenten Nachmessens mit anschließender Kompensation von Fehlern sind die Grundlage der Feinstkorrektur der Schleifbahn. Die Multigrind Horizon Software handhabt diese Schleifoperation zuverlässig und schnell im mannlosen Betrieb. An dieser Entwicklung haben wir zwei Jahre getüftelt. Als Ergebnis sind wir nun in der Lage, die gesamte Variantenvielfalt aller Verzahnungen zuverlässig zu beherrschen. Ich glaube, da ist uns eine kleine Sensation gelungen. Die Ausmaße können wahrscheinlich nur unsere Kunden in der Getriebeproduktion verifizieren, die ab jetzt Zahnräder der Güte 2 und 3 herstellen können, anstatt wie bisher Güte 4 bis 6.